Heft 05. Die letzten Tage im Elternhause

Heft 05. Die letzten Tage im Elternhause

Inhaltsverzeichnis
00. Vorwort
01. Jesus und Nathan
02. Joseph im Jenseits
03. Nathan als Freund
04. Jesus als Arzt und Kinderfreund
05. Gabriels Botschaft
06. Der innere Ruf
07. Jesus kündigt Seinen Abschied an
08. Nathan schaut In seine Innenwelt
09. Aus Jesu Innerer Welt
10. Die Weihe auf der Anhöhe
11. Nach Betrachtung

 

 

Vorwort

Für den andächtigen Leser enthält auch dieses Heft wieder die Mahnung: sich immer noch tiefer in die unendliche Liebe unseres Schöpfers und Vaters hineinzuleben. Unwillkürlich! steigen uns oft Tränen in die Augen ob Seiner dienenden Liebe, mit der wir Menschen geliebt werden.
„Kommet alle her“, ruft diese erbarmende Liebe uns zu, „und folget Mir nach in das Wissen von den geheimnisvollen Zusammenhängen, die zwischen eurem Tun im Aussenleben und der Glückseligkeit in euren inneren Welten bestehen.“ Jeder lerne klar beurteilen, was er von all den Ideen (die von aussen her in ihn hineinwehen gleich Samen) in sein eigenes Herzensland hineinnehmen will, auf dass sie einst reiche Ernten bringen —
O säet doch kein Unkraut in die zarten Kinderherzen! Bauet edle Neigungen darin an, an deren Ausreife einst wir alle uns erfreuen werden!

01. Jesus und Nathan

Der Heimgang des alten Joseph hatte keine grossen Veränderungen im Hause verursacht, da der älteste Sohn Joel, laut Abmachungen mit seinem betagten Vater, das Geschäft und die Führung des Hauses übernahm. Maria besorgte auch weiterhin den Haushalt, und in Küche und Haus waltete die grösste Ordnung. Während aber Joseph als Hausvater auch die Verantwortung in Ewigkeitsdingen übernommen hatte und alle Söhne sich seinen Anweisungen willig fügten, mit Ausnahme von Jesus, der nach Seiner Weise Gott diente, änderte sich dieses Verhältnis jetzt bedeutend, denn Jakob und die Mutter Maria hielten sich nun an Jesus.
„Grüss Gott! Bruder Joel!“, mit diesen Worten tritt Nathan, ein Ältester aus Nazareth, zu Joel in die Werkstatt und spricht tadelnd weiter: „ihr werdet jetzt recht selten in der Synagoge! Auch scheint ihr nicht trostbedürftig zu sein, denn es wird beobachtet, dass ihr die Grabstätte eures Vaters nicht besucht. Wisset ihr nicht mehr, was ihr dem Dienste Jehovas schuldig seid?“
„Bruder Nathan“, antwortete Joel ruhig, „von deinem Standpunkt aus als Priester mag deine Frage an mich berechtigt sein, und so will ich dir darauf antworten: Unser Vater, als auch ein Altester, pflegte Gottesdienst und Gebet hier im Hause und kein Priester machte uns einen Vorwurf daraus. Das Haus mit allem habe ich übernommen, also auch die Rechte; und wenn ich auch in der Gemeinde kein Ältester bin, so bin ich es doch jetzt im Hause Josephs. Allezeit hat unser Gottesdienst uns das Nötige gegeben, darum wundert es mich, dass gerade du, der du mit unserm Vater so einig warst, jetzt in unserer Hausordnung einen Makel siehst!“
„Bruder Joel, es nimmt dich wunder, dass ich zu euch komme; dass sich aber ganz Nazareth über euch wundert, merkt ihr nicht? Vor allem möchte ich mit dir über deinen Bruder Jesus reden, denn er ist schlimmer als ein Heide. Bei Joseph haben wir vieles entschuldigt in seiner Schwäche Jesus gegenüber; du aber brauchst keine Rücksichten auf ihn zu nehmen, da Jesus der Sohn aus zweiter Ehe ist.“
„Wegen Jesus kommst du zu mir?“ fragt Joel erstaunt. —
„Ja! Vor Jahren schon hörten wir eure Klagen über Jesus. Tage und nächtelang habt ihr euch gesorgt und gebetet, Jehova möge helfen, und jetzt gilt es für euch nicht einmal eine Synagoge mehr! Wir wissen, dass Jesus an einem Gottesdienst teilnimmt; und während du deine Hausandacht hältst, geht er andere Wege.“ „Ja, warum sprichst du nicht mit Jesus selber?“ fragt Joel — „siehe, dort kommt Er!“ —
Jesus tritt ein, grüsst, und will an seine Hobelbank gehen. Da geht Joel auf Ihn zu und spricht: „Jesus! Nathan beschwert sich über uns, vor allem über Dich, wenn Du magst, kannst Du Dich mit ihm darüber aussprechen.“ „Ja, ich bin gekommen, Klage zu führen“, spricht Nathan eifrig, „nie sieht man dich beim Gottesdienst, die Morgen und Abendandachten im Hause sagen dir nicht zu, und du gehst inzwischen einsame und vielleicht auch verbotene Wege.“
Jesus antwortet: „Sind das alle Sorgen, die du Meinetwegen hast, oder treibt dich noch etwas anderes her? Du beschwerst dich, dass wir, damit meinst du Mich und Meine Mutter, nicht mehr zu euch kommen. Hast du dich aber schon einmal gefragt, ob die Synagoge auch uns befriedigt? Meine Mutter ginge wohl gern zum Gottesdienst, doch was Mich betrifft, Ich wurde dort noch nie befriedigt!“ —
„Jesus! das sagst du zu mir? Zu einem Gesalbten sagst du, unser Gottesdienst befriedigt dicht nicht! Bedenke, ich bin über siebenzig Jahre alt, und du noch nicht dreissig. O Schande, dieses bei euch zu erleben!“ —
„Schande nennst du es, so Ich, als ein an Jahren bedeutend jüngerer, dir gegenüber Meine Meinung frei und offen bekenne? Seid froh, dass Ich eure Schande nicht aufdecke; denn dass ihr ein Auge auf Meine Mutter geworfen habt, seit Joseph nicht mehr ist, kann euch bewiesen werden! Und nur darum, Nathan, kann Mutter nie mehr zu euch kommen, da auch sie euch erkannt hat. Ich aber diene Gott in Meiner Weise, und dies gibt Mir mehr als eure Synagoge.“ —
Nathan erregt sich: „So! Da komme ich, mich nach eurem Seelenheil zu erkundigen und erhalte von dir solche Antwort, dass ich nicht weiss, was ich dazu sagen soll? — Sieh, es ist mir heiliger Ernst um dich!“
Jesus spricht beruhigend: „Höre, Mein Freund, es tut Mir leid; doch auch dir gegenüber kann Ich Mein Wesen nicht ändern und will dir heute sagen, dass der Träumer Jesus, der Sonderling, doch gefährlicher ist als er aussieht! — Und darum erschrecke nicht, denn einmal müsst ihr es ja doch erfahren. Ich fühle in Mir die Berufung: das Volk aufzuklären über seinen wahren Gott und Sein ewiges Reich! Ihr aber habt allen guten, wahren Glauben an Gott und den Herrn Zebaoth vernichtet durch eure Heuchelei und die Vorrechte, die der Tempel geniesst. Nur an euch soll noch geglaubt werden. Nur ihr seid die „Erwählten und Gesalbten“ und lasset das Volk schmachten nach der Wahrheit über Gott und wahren Gottesdienst. Wohl könnt ihr gewissenlos die Geissel schwingen, könnt Gesetze aufstellen und gewaltige Steuerlasten auf das Volk legen und dabei verkünden: Das ist der Wille Gottes, eures Unglaubens wegen! Aber ihr irret! Ihr habt nicht mit Gott gerechnet! Ich könnte dir aus der Schrift all euer verkehrtes Wesen und Tun beweisen, aber ihr seid auch schlau genug, um mit anderen Stellen der Schrift euer Tun
zu beschönigen. Darum hat Mich Gott gesandt in eure finstere Nacht und Welt, um gleich einer Feuergarbe all euer verkehrtes Tun und Leben zu beleuchten. Wer nun dieses Mein Licht in sich aufnehmen will und danach zu tun beginnt, der wird inne werden, dass alles, was Ich bezeuge, nicht aus Mir, sondern aus Gott ist. Wer sich aber vor der Zeit an Mir vergreifen will, wird sich an diesem Licht verbrennen!“
„Oh — darüber soll ich mich nicht ärgern, du Jüngling, der keine Gemeinschaft sucht mit seinen Stammes und Glaubensbrüdern, der mehr mit den Römern, den Heiden und Gottlosen verkehrt als mit den eigenen Brüdern! — Aber du bist der Erste nicht, den der Tempel anderen Sinnes machen wird! Pfui, Schande über dich und dein Vaterhaus, solch ein Elend heraufzubeschwören!“
Ernst spricht Jesus: „Nathan! Wer gibt dir das Recht, Mich und das Haus Joseph so zu schmähen? Wohl hast du das Recht, dich zu erkundigen über alle Verhältnisse hier im Hause Josephs; aber uns zu beschimpfen geht über deine Befugnisse! Darum nimm dies hässliche Wort zurück, damit du nicht der Erste bist, der sich an Mir verbrennt!“
„Was? Du Grosssprecher und Phantast willst mir drohen?“
„Nathan! Eifer ist gut, aber Übereifer schadet! Mich magst du beschimpfen, Ich verzeihe dir, weil du nicht weisst, was du damit tust. Doch, damit du nicht grösseren Schaden anrichtest, so bleibe hier stehen und sei stumm, bis du die Beschimpfung vom Hause Josephs zurücknehmen willst!“ Ruhig ging Jesus ins Haus zurück. Joel aber blieb und arbeitete weiter.
Nathan wollte auffahren; aber schwer wie Eisen wurden Hände und Füsse. Er wollte rufen, schreien, aber keinen Ton brachte er hervor. Innerlich wehrte er sich energisch gegen diesen Zustand, aber er blieb machtlos — wehrlos.
Als Jesus im Hause Seine Mutter trifft, spricht Er: „Mutter, drüben ist der Erste, der sich Mir in den Weg stellen wollte, um Mir zu verwehren, wozu Mein Innerstes Mich drängt! Er beschimpfte aber nicht nur Mich, sondern unser ganzes Haus, und da gebe Ich ihm jetzt Gelegenheit, sein Unrecht einzusehen und gutzumachen!“
„Jesus! — Sei klug! Spanne den Bogen nicht zu straff! Denn es ist leichter, ein Unrecht zuzufügen als eine Wohltat zu erweisen! Gewiss, ich glaube an Dich, glaube an Deine Mission, — aber mässige Dich, denn auch in Dir ist noch Unruhe und Kampf.“
„Mutter! Du liebes, gutes Weib! Deine Liebe ist Himmelsgut und wird der Erde zum Segen! Aber Liebe darf auch nicht zur Torheit werden. Glaube Mir, Ich durchschaue diesen Pharisäer! Sein Inneres ist jetzt noch voll Wut und Hass, doch er wird sich wandeln!“
„Jesus! — Vielleicht wäre doch eine andere Lösung möglich; denn der Tempel ist und bleibt das Haus Jehovas. Und wie sagtest Du einst, als wir Dich suchten und im Tempel fanden: „Wisset ihr nicht, dass Ich sein muss im Hause Meines Vaters!’ Mein Jesus, gibt es keinen anderen Weg — als den, den Du Dir selbst vorzeichnest?“ —
„Mutter! Du redest und denkst noch sehr menschlich. Ich aber suche Göttliches zu verwirklichen, nicht Menschliches. Würde Ich nur einen Zoll breit abweichen von dem Mir gesteckten hohen Ziel, dann wäre all Mein Kampf nutzlos gewesen und der ganzen Menschheit Los besiegelt! Verstehe Mich weiter und habe auch du Geduld!“
„Gewiss, mein Jesus! Ich möchte Dich ganz verstehen, möchte Dir dienen mit meiner ganzen mütterlichen Liebe und möchte Dir jede Enttäuschung ersparen.“
„Mutter, wenn du Mich verstehen lernen willst, dann musst du auch innerlich mit Mir gehen. Nicht mehr auf Menschen oder ihre Einrichtungen schauen, sondern ganz sicher, ganz deiner selbst bewusst werden. Dann erst ist jede Schranke gefallen, die uns im Innern noch von dem himmlischen Vater trennt! Glaubst du, liebste Mutter, dass Ich ganz dein Sohn wäre, wenn Ich nicht zuvor Gottes Sohn geworden wäre? — Du fragst: Wie das nun, bist Du nicht längst Gottes Sohn?
Siehe, wohl bin Ich es, weil Ich es aus Gott bin! Aber Ich möchte es aus Mir selbst sein! Und indem Ich durch die allergrösste Treue und seltenste Hingabe im steten Gehorsam gegen die Stimme Gottes im Innern alles das vollbringe, was zu Meiner Vollendung nötig ist, werde Ich als Mensch zu Seinem Sohne und zeige dadurch allen Menschen den Weg, um auch ein rechtes Gotteskind zu werden“ —
„O mein Jesus! Wüsste ich nicht längst, was Du willst, ich würde irre an Dir! — Aber sage mir doch: Wann bist Du so weit? Wann beginnst Du Dein grosses Werk? — Es ist ja so schön jetzt unter uns! — Nichts vermissen wir, nicht einmal unseren Vater Joseph; aber bleibt es nun so? — Es wird mir so schwer, alle Sorgen um Dich von mir fernzuhalten; dann und wann sind sie doch da!“
„O Meine Mutter! — Ich kann es dir nicht sagen, wann und wie der Ruf an Mich ergehen wird! Und es ist auch gut so, da kann Ich Mich noch täglich prüfen, ob Ich wahrhaft mit dem Vater eins bin. — Wie Ich Ruhe finde bei dem Gedanken: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen!“, so musst auch du dich trösten. Alle werdet ihr einst reichlich entschädigt werden dafür, Mir geholfen zu haben, dass Ich diese Reife erhalte: wahrhaft aus Mir — Gottes Sohn zu sein!“ —
Inzwischen hat Joel, gestützt auf frühere Erfahrungen, Nathan nicht weiter beachtet und seine Arbeit ruhig fortgesetzt. Nun kommt Jakob mit seinem Handwerkszeug in die Werkstatt, sieht Nathan und grüsst ihn nach Art der Juden; dabei fällt ihm Nathans Wesen auf, und er betrachtet ihn nun erst genauer. Nathan ist innerlich erregt, kann aber nichts sagen. Da fragt Jakob: „Was ist denn mit dir geschehen, Nathan, da du so stumm und doch innerlich so erregt bist; kann ich dir beistehen?“
„Nein!“, sagt Joel zu Jakob streng, „er hat Jesus angeklagt und uns alle beleidigt und soll nun so lange stumm und still bleiben, bis er diesen Schimpf zurücknehmen will!“ — „Oh, da kann Jesus lange warten, denn Nathan ist unversöhnlich! — Aber könnten wir Jesus nicht bitten, diesem Zustand ein Ende zu machen?“ Und als er Jesus bei der Mutter trifft, spricht Jakob sogleich: „O Jesus, ich bitte Dich, diesem Templer die Freiheit zu geben, denn er sieht zum Erbarmen aus!“
„Lieber Jakob, rührt dich nur sein Aussehen?“ — antwortet Jesus; es wäre richtiger, du würdest dich von seinem inneren Zustand rühren lassen, denn der würde dir ein anderes Bild zeigen. Es wird ihm nichts zuleide getan; diese Lektion soll ihm ja nur nützen, nicht schaden. Mag er endlich erkennen, dass Ich nicht mehr der stille Jesus bin! Denn gerade Nathan hat Mich am meisten in den Ruf eines Träumers und Muttersöhnchens gebracht.“
„Aber Jesus! — Willst Du denn Gleiches mit Gleichem vergelten? So jemand jetzt käme und sähe Nathan, müsste er annehmen, Nathan sei nicht mehr rechten Sinnes.“ —
„Sorge dich nicht um Mein Tun, Mein Jakob! Du müsstest doch deinen Jesus kennen, und dass es Mir nicht möglich ist, hier Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Es könnte nur eine wahrhafte Liebe sein, die Ich vergelten möchte. Lassen wir darum den Dingen ihren Lauf.“
„Jesus! Vielleicht könnte ich ihm beistehen, so Du es erlaubst? Ich möchte versuchen, ihn anderen Sinnes zu machen.“ —
„Bruder Jakob! Dein gutes Herz und deinen guten Willen in Ehren. Ich verbiete es dir nicht. Aber bedenke: es handelt sich hierbei nicht um Mich, es handelt sich um die innere Wahrheit, und dass, wo Ich ein Werk beginne, Ich es auch vollenden möchte! Bald, bald ist die Zeit da, wo Ich zu euch sagen kann: Tue dieses! oder: Tue jenes!“ (jetzt noch nicht) — „Liebster Jesus! Wann kommt die Zeit?“, fragt Jakob offen, „auch ich ersehne den Tag und die Stunde, wo alle in Dir schlummernde Herrlichkeit offenbar wird! Nichts wird midi dann abhalten, ganz auf Deiner Seite zu stehen, denn Du bedeutest das Glück der Menschheit!“ —
„Lass gut sein, Bruder!“ — wehrt Jesus ab. „Und du, Mutter, gib uns zu essen, die ändern werden gleich da sein!“
„Und Nathan?“ fragt Maria bang. —
„Der bleibe so lange stehen, bis er sich zu dem Entschluss durchgerungen hat, uns, und vor allem dich, um Verzeihung zu bitten!“
„Jesus! Ist dies Dein unabänderlicher Wille? — Lassest Du nicht handeln mit Dir?“ —
„Maria, es gibt nur einen Willen, den Ich anerkenne, und dieser ist Gottes Wille“, spricht Jesus ernst. „Gott lässt nicht mit Sich handeln, Er ist bestimmt in allem! Oder glaubst du, dass es etwas Unbestimmtes war, da der Erzvater Abraham mit Gott wegen Sodom und Gomorra verhandelte? Sei sicher, hätte Abraham gewusst, dass sich nur fünf Gerechte in diesen Städten aufhalten, so hätte er gesagt: „Um dieser Fünf willen — bitte ich Dich um Erbarmen“. (1. Mose 18; 2233) Aber Abraham war selber im Zweifel, ob nur einer darin war, und so wollte Gott nur Abrahams Liebe prüfen und seinen Glauben. Die ganze Geschichte des alten Judenvolkes kannst du durchforschen und überall wirst du finden: Gott ist bestimmt in allem Seinem Tun und Handeln. Mein Weg ist klar und lichtvoll. Denn in Mir lebt jetzt die Gewissheit: Alles, was Ich will, wird gelingen, da alle Kräfte Mir zu Gebote stehen! Und so sage Ich auch zu dir: Halte Mich nicht auf! Ich weiss, was Ich tun muss! Keine Macht der Erde noch der Hölle kann Mich darin wankend machen, denn in Mir ist Gott, und Seine Kräfte sind die Meinen!“
Maria erschrickt, denn so ernst hat Jesus lange nicht gesprochen.
Nun kommen die andern Söhne zum Essen, und da erzählt Joel ihnen: „Höret, Brüder, gegen uns wird geklagt, dass wir zu wenig den Gottesdienst besuchen! Nathan, der uns dieses überbrachte und auch noch unser Haus schwer beleidigte, steht nun drüben in der Werkstatt und kann sich nicht vom Fleck rühren, da Jesus ihm eine Probe Seiner Kraft zu kosten gab! Ich bitte aber euch alle herzlich: Lasst euch nichts merken von dem, was über uns geredet wird, sondern begegnet allen mit Liebe und Entgegenkommen.“
Jakob spricht: „Brüder! Joel hat recht! Nur in der Ruhe und in der Liebe bleiben, das ist der beste Schutz gegen die Schlechtigkeit der Menschen. Wir aber wissen, wer in unserer Mitte ist, und brauchen darum die Welt nicht zu fürchten! — Hüten wir uns, nur etwas von dem verlauten zu lassen, denn dadurch würden wir unserm Bruder Jesus Sein Werk erschweren! Seit Vater nicht mehr ist, liegt doppelter Segen auf uns! Ich bin der Ansicht, dass Jesus jetzt mehr und mehr Seinem inneren Beruf nachgehen wird, und wir wollen dazu beitragen, dass Sein Werk sich vollende.“
„Mein lieber Jakob“, spricht Jesus ernst, „lass diese Reden! — Denn Ich tue nur, was Ich will und muss! Nur stille sein sollt ihr alle über Mich, dann getraut sich kein Mensch und auch kein Templer an euch. Seid ihr aber hierin nicht klug, so wird vorzeitig der Feind aller Liebe und Wahrheit auf uns aufmerksam, dann habe Ich um so schwerer zu ringen und zu kämpfen, da Ich alle unsichtbaren Feinde nicht nur fühle, sondern auch sehe! Wie oft wundert ihr euch über Mein Alleinsein. „Jesus geht beten’, sagt ihr wohl, könnt aber nicht verstehen, dass nur im Gebet und in innerer Stille das Hineinwachsen in Gott möglich ist! Hätte Ich dieses unterlassen, so stünde Ich nicht so nahe am Ziel und sähe noch nicht so klar die Aufgaben, die Meiner noch harren.“
Maria aber kann beim Essen innerlich nicht ruhig bleiben, denn der Templer geht ihr nicht aus dem Sinn. Da spricht Jesus zu ihr: „Mutter! — Gedulde dich nur noch kurze Zeit; bald ist es so weit, dass er sich wieder bewegen kann! — Nur noch kurze Zeit weile Ich unter euch! Bald ruft der Vater Mich zur Arbeit, zur Erfüllung! Dann verlasse Ich euch und gehe dorthin, wo ‚Mein Vater’ Mich braucht!“ —
„Jesus! Verlasse uns nicht!“ ruft Joel erschrocken. „Deiner Liebe haben wir soviel Gutes zu verdanken und wieviel Unrecht haben wir Dir oft zugefügt. Oh, wenn unser Vater Joseph doch bei uns wäre!“ —
„Brüder! Euer Vater Joseph weiss auch jetzt um alles, und seine Liebe ist stets bemüht, alles von euch fernzuhalten, was euch schaden könnte. — Und gerade heute möchte Ich euch einen Beweis davon geben, als ein Zeichen der grossen Gnade und Herrlichkeit Gottes, denn auch ihr seid reifer geworden! Nun aber seid alle still, innerlich ganz still! —

02. Joseph im Jenseits

Um die Gegenstände in der Stube spiegelt sich ein lichter Glanz, dann verschwinden vor ihren Augen auch die Wände und alle befinden sich in einem wunderbaren Garten. Haushohe Palmen und Obstbäume, schwer beladen mit reifen, duftenden Früchten, breiten ihre Äste aus und geben einen wonnevollen Schatten, der aber nicht kühlt, sondern wärmt. Unter diesen Bäumen sitzen viele reine, engelgleiche Wesen und geniessen von den süssen Früchten. Joseph, als der Besitzer und Herr dieses Gartens, zeigt keine Spur von Alter und Müdigkeit, sondern froh und lebendig nötigt er seine Gäste zum Zugreifen.
Einer unter ihnen spricht jetzt: „Bruder im Herrn! Eine grosse, gewaltige Frage beschäftigt uns und wir hoffen, dass wir bei dir die Löse erfahren. Du bist von der Erde. Du hast den allergrössten Gnadenakt erlebt, den je ein sterblich Wesen erleben durfte, und so fragen wir dich: Hast du nicht grosse Sehnsucht zurück nach der Erde, weil doch der Herr nicht hier, sondern auf der Erde weilt?! Wir können uns nicht denken, dass du, der du den Herrn auf deinen Armen getragen hast, jetzt glücklich sein kannst, da du ferne von Ihm bist!“
„O ihr Lieben“, antwortet Joseph lächelnd, „sehet ihr denn nicht, dass ich restlos glücklich hier bin? — Denn das, was ihr als Seligkeit euch vorstellt, war für mich nur eine Vorstufe dazu. Ihr vergesset, dass ich damals wohl den Herrn von Ewigkeit zu Ewigkeit auf den Armen getragen habe, aber nicht im Herzen! Nun aber lebt Er in mir, und ich lebe in Ihm! Dies ist Grösseres als alle denkbare Seligkeit auf der Erde! Denn was ist alle Kreatur, was sind alle Wesen ohne Ihn? Nichts! Sein Hauch kann alles verwehen! Was seid ihr in eurer Welt? — Ein Nichts, trotz aller Weisheit und Vernunft! Denn nur ein Hauch von Ihm und alles kann aufhören! Wer sich aber bemühet: Gott und Sein Leben in sich zu tragen, schafft und formt in Kräften aus Gott, und nichts kann je etwas von diesen Werken zerstören! Sehet diese meine Welt mit ihren Gärten! Bis in alle Unendlichkeit dehnen sie sich aus und könnten nähren nicht nur alle Menschen dieser meiner Erde, sondern auch alle Wesen eurer Welt. Sehet, wie ich einst als Erdenmensch bemüht war, alles im Gesetz zu erfüllen, soweit es mir irgend möglich war, so wuchs in mir nicht nur das Bewusstsein: ich diene Gott, sondern: Gott dient auch mir. Und damit wuchsen auch meine Fähigkeiten immer mehr, dem EwigUnvergänglichen zu dienen! Und darin lebe ich nun auch hier! Sollte je der Wunsch oder die Sehnsucht in mir aufsteigen: „Ach könnte ich noch einmal bei meinen Lieben auf der Erde sein“, so ist solcher Wunsch auch schon erfüllt, sobald die Sehnsucht den richtigen Grad erreicht hat! Meinen Herrn aber, den herrlichen und heiligen Gott — trage ich in mir als lebendige Erinnerung! Und sollte Sein seit Ewigkeiten vorgesehenes Werk einst vollendet sein, dann wird Er persönlich überall dort sein, wo die Liebe den vollkommensten Grad erreicht hat!“
Staunend hören die herrlichen Geistwesen diese Rede Josephs; da tritt ein Engel heran und spricht zu Joseph: „Bruder im Herrn! Auch deine Kinder durften heute von deiner Liebe mitgeniessen! Und bald ist der Zeitpunkt da, wo der Herr allen sicht  und hörbar Sein Werk beginnen wird!“ —
Langsam vergeht nun wieder der Maria und den Brüdern dieses geistige Erlebnis. — Dann spricht Jesus: „Brüder! Seid ihr nun überzeugt, dass unser Vater Joseph an allem hier teilnehmen kann? Genau wie ihr ist auch er unterrichtet über Mein Vorhaben; und auch er trägt im Geistigen dazu bei, dass Mein Werk gelinge! Aber nun seid noch eine Weile still, denn Nathan hat sich überwunden — und kommt.“

03. Nathan als Freund

Die Tür öffnet sich — und „Gott sei Dank, dass ihr hier seid, denn ich möchte euch alle, auch dich, Jesus, um Verzeihung bitten!“ spricht der eintretende Nathan und reicht Jesus und Maria die Hand. „Ich habe schlecht an euch gehandelt und sehe nun mein Unrecht ein! Vergebt mir, und traget mir nichts nach, doch schweiget vor jedermann!“
„Lieber Nathan“, spricht Jesus, „es ist recht von dir, dass du gekommen bist und um Verzeihung gebeten hast. Nichts tue Ich lieber, als verzeihen! Und wenn du hundertmal schlechter an Mir und an dem Hause Josephs gehandelt hättest, so würde Ich dir verzeihen, wenn du aus der Tiefe deines Herzens um Verzeihung bittest.“
„Habet Dank für dieses Wort! Aber habt auch Geduld; denn ich bin in dem verkehrten Geiste gross und alt geworden! Aber darf ich auch glauben, ihr habt mir alles verziehen?“
„Glaube es!“, spricht Jesus, „und zum Beweis komme, setze dich an den Tisch und nimm teil an unserem einfachen Mahl.“
„Was, auch dieses noch? Oh, wie haben wir euch verkannt. Ihr lohnt Schlechtigkeit mit Liebe?“
„Frage nicht, Nathan! Es ist des Menschensohnes grösstes Glück, so ein Verirrter seinen Irrtum einsieht! Willst du aber auch glücklich werden und sein, so suche Verirrte zu heilen vom falschen und verkehrten Wahn, und Gott wird es dir lohnen öffentlich! Die Zeit ist da, wo Gott sich uns offenbart und noch weiter offenbaren will; und da kann Gott nicht erst den Tempel und seine Diener fragen: „Darf Ich?“ Es ist ein heilig Wehen um diesen Geist! Darum, willst du wahrhaft glücklich werden: Erkenne dein wahres, dein innerstes Ich! Denn Gott sieht nur in das Herz und wird sich nie nach den Menschen richten.“
„Jesus! Du redest, als wenn du Gott besser kennst denn ich! Wohl habe ich eine Probe deiner Kraft erfahren und möchte es zum zweiten Male mit dir nicht verderben; aber was du hier erzählst ist mir zu unglaubhaft! Denn auch ich kenne die Geschichte des Volkes Israel und habe von mancher „Offenbarung Gottes“ in Moses und den Propheten gelesen! Wo du aber diese Kraft hernimmst ist mir unerklärlich und ebenso dein Glaube über Gottes Offenbarungen!
„Nathan, iss und trink erst an unserem Tisch“, spricht Jesus, „damit auch der Gastfreundschaft Genüge getan werde! — Über alles andere reden wir später, da Ich dir nichts aufdrängen möchte! Nur eins möchte Ich erreichen: dass du alle Feindschaft aufgibst, die dich gegen das Haus Joseph so erbitterte! — Sei doch unser Freund, wie du der Freund Josephs warst! Dann überwindest du auch alle niedere Leidenschaft, und wir werden uns freuen, so du bei uns einkehrst. Von Mir freilich darfst du nicht denken, dass Ich aus fremden oder gar bösen Kräften wirke; denn dann entfernst du dich von Mir und Meinem Wesen!“
„Jesus, Jesus! Du MenschenRätsel!“ ruft Nathan, — „einmal übervolle Liebe, dann wieder voll geheimer Kräfte! Drüben in der Werkstatt der Strafende und hier das reine Gegenteil! Was ist denn echt an dir? Würde ich deine Eltern und Brüder nicht so gut kennen, ich müsste annehmen, du trägst in dir zwei Naturen!“
„Nathan! Noch nie konnte Mir irgendeiner nachsagen, dass Ich ihm nicht Liebe gereicht hätte! — Und was in unserer Familie Aussergewöhnliches geschah, war nur Meinetwillen. Wenn du aber annimmst, in Mir seien zwei Naturen, so sage Ich dir: Da irrst du gewaltig! Mein Inneres ist auch Mein Äusseres! Aber bei dir wie bei allen ändern Menschen ist das Innere ganz anders als das Äussere!“
„Wie meinst du dieses? Hier verstehe ich dich gar nicht!“ spricht Nathan.
„Weil du Mich nicht verstehen willst!“ antwortet Jesus. „Denn ein Mensch, der anders handelt, als er denkt und redet, ist eine ZweiNatur, da sein Inneres das Gegenteil ist von dem, was er nach aussen stellt. So aber ein Mensch sich bemüht, ehrlich zu sein, um sein Inneres wahrhaft nach aussen zu stellen, der hat den äusseren Menschen überwunden und ist „Eins’ geworden mit seinem Innern! Dies war Mein Kampf bis heute. Und wenn Ich in heiligem Ernst gerungen habe mit Mir, da habt ihr gelacht über den Träumer und Phantasten. Aber nun kommt die Auswirkung dieser Meiner EinsWerdung in Mir l Nazareth werde Ich verlassen und dereinst erst werden sie erkennen, was sie an Mir versäumt haben! Denn wer sind Meine Freunde ausser Meinen Brüdern? Römer, finstere Heiden, aber dafür bessere Menschen, denen es ein Leichtes war, Meinen guten, ehrlichen Willen zu erkennen. Ihr alle aber, und die Templer am meisten, hattet nur Spott für Mich. Siehe, wenn du denkst, Ich möchte dich zu Meiner Anschauung bekehren, da irrst du wieder! — Denn nur dies möchte Ich erreichen, dass du der alte Freund des Hauses bleibst und deine Freundschaft bewährst, wenn Ich nicht mehr hier bin. Denn Ich werde vom Tempel gehasst, verfolgt und geächtet sein; dies aber soll nur Mir gelten! Sorge du dann, dass der Hass nicht auf Meine Mutter und Brüder übergeht!“
„Jesus, dieses will ich dir versprechen! Aber wie kommt es, dass du vor dem Tempel fliehst und hast Furcht vor ihm? Trägst du, wie du sagst, Kräfte in dir, um alles zu überwinden, warum erprobst du sie nicht an dem Tempel und seinen Dienern? Hier muss ich wieder zweifeln und muss dir sagen, du benimmst dich nicht wie einer, der Grosses vor hat!“ —
„Nathan, würdest du Mich kennen, so wüsstest du, dass Ich einer Furcht nicht fähig bin. Denn alle Macht hat Mir, Der Vater’, der in Mir ist, übergeben! Doch bin Ich nicht berufen, den Tempel umzugestalten, sondern als ein wahrer Mensch zu zeugen von dem ewigen, wahren Gottesleben im Innern und um zu leuchten aus dem Licht, welches Gott als die ewige Liebe Selbst ist! — Doch dir ist dieses ja gleichgültig, sonst hättest du dich mit Joseph schon manchesmal darüber unterhalten können.“

04. Jesus als Arzt und Kinderfreund

Die Brüder gehen nun wieder an ihre Arbeit. Plötzlich wird es im Hofe lebendig. Hastig wird die Tür geöffnet — eine Frau, gefolgt von zwei weinenden Kindern, eilt auf Maria zu und bittet mit lauten Worten um Hilfe; denn die Witwe vom Nachbargrund sei gefallen und habe scheinbar ein Bein gebrachen.
Maria will gleich gehen; da spricht Jesus: „Mutter, bleibe du mit der Nachbarin und den Kindern hier! Nathan ist Arzt, und ich werde ihn begleiten.“
Nathan fragt erstaunt: „Was willst denn du dabei?“ — „Mein Nathan, Ich gehe mit dir“, antwortet Jesus, „da Ich zeigen möchte: auch Ich habe Mitgefühl!“
Wortlos gehen beide. — Bald erreichen sie das Haus und sehen schon beim Eintritt, dass die Frau wirklich grosse Schmerzen erleidet. Als Nathan sie untersuchen will, stöhnt sie noch lauter. Da spricht Jesus: „Du machst ihr noch mehr Schmerzen als nötig sind! Komm, und lass Mich den Bruch berühren.“
„Du? — Du bist doch Zimmermann und kein Arzt!“
„Auch als Zimmermann kann man Arzt sein!“ antwortet Jesus und drängt ihn zur Seite. Dann streckt Jesus beide Hände aus und segnet die Frau; kniet nieder, legt behutsam Seine Hände auf die Bruchstelle und sofort verstummt ihr Weinen und — nach wenigen Minuten ist alles geheilt! Nun führt Er die Geheilte zu ihrem Lager und spricht: „So Ada, bleib jetzt ruhig liegen und danke deinem Gott, der dich geheilt hat, aus tiefstem Herzen! In Zukunft aber übe Eile mit Weile!“
Verständnislos schauen Nathan und auch Ada Jesus an. Er aber spricht: „Glaubet Meinen Worten und gebet Gott die Ehre! Denn Gott kann nur da helfen, wo Ihm Glauben entgegengebracht wird!“ Dann wendet Er sich zum Gehen. Ihm folgt der staunende Nathan, der endlich spricht:
„Jesus! Was war denn dieses wieder? — Du wirst mir immer geheimnisvoller! Denn das Weib war dem Tode verfallen; der Brand war ja schon eingetreten.“
„Ja, Nathan, rasche Hilfe tat hier not! — Dir aber wollte Ich beweisen: dass ein Mensch, so er in sich mit Gott, Eins’ wird, auch über die Kräfte verfügt, die er von Gott bekommen hat. Im Grunde hat hier nur Gott geholfen, und Ich gab Meinen Willen, vertrauend auf Seine Hilfe, dazu!“
„So könntest du auch anderen helfen — auch mir?“ fragt Nathan.
„Gewiss! — So du glauben könntest, dass nicht Ich, sondern Gott in Mir dir helfen würde, so würdest auch du Gottes Güte und Hilfe erfahren können.“
„Jesus, Jesus! Das fasse, wer es kann, ich kann es nicht! Das ist für mich alten Mann zuviel! Darum verzeihe, ich muss heim, sonst werde ich zum Narren!“
„Gehe getrost, aber vergiss das Wiederkommen nicht! Denn es könnte eine Zeit kommen, wo du Mich vergeblich suchst!“ Beide trennen sich — Jesus sinnend, Nathan aber getrieben vom Geiste der Unruhe! —
Jesus geht heim. — Maria war es inzwischen gelungen, die Kinder zu beruhigen und die Nachbarin heimzuschicken. Sie sieht nun Jesus an und sofort wusste sie: Gott hat wiederum gnädiglich geholfen! „Es war wohl nicht so schlimm?“ fragte sie.
„Es war schlimmer noch! und ohne Hilfe wären beide Kinder Waisen geworden! Aber wiederum erfüllte sich Mein Wunsch: Gott gab, und Ich war der Dienende.“ Jesus erzählte nun alles, aber leise, damit die beiden Kinder die Wahrheit nicht erfuhren!
Maria hielt ihre Hände auf ihr pochendes Herz und fragte: „O Jesus! Was wäre wohl geworden, so Deine Hilfe nicht gekommen wäre?“
„O Mutter! — Du hättest eben zwei Kinder mehr gehabt! Und es wäre dir bestimmt nicht schwergefallen, auch an diesen Mutterstelle zu vertreten.“
„Wo ist denn Nathan? — Ist er noch dort geblieben?“
„Nein, er ging nach Hause! Aber er wird keine Ruhe finden, denn Ich bin ihm ein grosses Rätsel geworden!“
„O Jesus, warum bist Du so schwer zu verstehen, warum nur? Es ging uns ja genau so, und wie haben wir darunter gelitten? Siehst Du, diese Fragen kommen immer wieder.“
„Meine Mutter“, antwortet Jesus sanft, „Ich möchte euch fragen: Warum seid ihr so schwer zugänglich für den Geist alles Lebens? Wie lichtvoll zeigt und kündet sich Mir alles Leben, denn Ich habe Mich durchgerungen durch jedes Warum! Euch aber würde es zum allergrössten Segen gereichen, so auch ihr alle Fragen, jedes Bedenken weit hinter euch stellen würdet und an dessen Stelle das Vertrauen setztet. Was gab Mir im Kampf diese Kraft? — Mein Vertrauen! — Nicht zu Mir selbst, nein, sondern zu Meinem und auch eurem Gott, der in Mir lebt und Ich durch Ihn! Hier liegt Mein Grund, und auf diesen baute Ich! Den hat schon Moses erkannt. Dieser Boden des Vertrauens auf Gott ist heiliger Grund, so ist es Mir noch tausendmal lichtvoller geworden! Solange aber dieser Grund und Boden, und wäre er noch so heilig, nicht dein eigener wird, musst du fürchten, denselben verlieren zu können! Gott, der Ewige, ist Mein wahrer Lebensgrund, und Seine Kraft und Macht fühle Ich immer mehr in Mir! Und Seine Herrlichkeit erfüllt Mich so lichtvoll, dass Ich nur nach dem Willen und Wünschen Meines Gottes leben will! O Maria! O Weib und Mutter! — Für dieses Mein heiliges Sein und Leben fehlt euch allen noch das richtige Verständnis!“
„Aber Jesus, verstehen wir Dich denn immer noch nicht?“ — fragt Maria erschreckt. — „Wie oft freutest Du Dich, weil wir Dich verstehen, und heute sagst Du wieder so? Heute bist Du wahrlich unverständlich!“
„Ja, Mutter! Dies musste gesagt werden, weil ihr euch noch viel zu sehr mit Meiner Person beschäftigt! Und dies ist eben der Umweg! Nur mit dem Geiste in Mir müsst ihr euch beschäftigen, dann erst wird euch vieles an Mir klar werden. Heute habt ihr den alten Vater Joseph im Jenseits gesehen! Glaubt ihr aber, dass er an dem alten Gesetz und den Propheten noch hängt? — O nein! Sein innerer Geist, den auch er unter schweren Opfern zum Leben erweckt hat, schuf ihm seine herrliche Welt! Und dieser Geist ist der urewige Gottesgeist, und dieser liegt als Funken auch in euch allen.“
„Jesus! Wenn Du so überzeugend sprichst, da sagt es in mir: Ja, Du hast recht! Bin ich aber wieder allein, da erscheint mir der Weg zu lang, bis auch ich dieses Ziel erreiche!“ —
Da öffnet sich die Tür, und Ada, die Geheilte, tritt herein. Ihre beiden Kinder springen ihr entgegen und ziehen sie hin zur Mutter Maria.
Ada aber spricht gerührt: „O du guter Jesus! Was hast du mir für eine Wohltat erwiesen! Denn furchtbar war der Schmerz, den ich ausgestanden! Zeige mir nur einmal deine Hände, denn so lind und so zart hat mich noch keine Hand erfasst, und aller Schmerz wurde sogleich geringer.“
„O Weib, was soll Ich getan haben?“ wehrt Jesus ab. „Es kommt bei allem immer darauf an, dass man sich nicht verliert und diese Dinge mit den rechten Augen ansieht! Danke Gott, und gib Ihm die Ehre. Alles andere ist vom Übel!“ Siehe, deine Hast und der Verdruss, den du hattest, hatten dich aller Vorsicht beraubt; und so konnte es nicht anders geschehen: du stürztest! Aber Gott sendet nicht Leid, um zu quälen, sondern lässt nur Leid zu, um zu prüfen! Hole dir aus diesem Vorgang das Beste heraus, und du wirst Gott den Herrn nur loben und Ihm danken!“
Nun kommen auch die Brüder, denn auch sie hatten von dem Unglück erfahren, und Jakob meint: „Mich würde es nicht wundern, wenn der Ada ein grosses Glück noch daraus würde! Denn eigentlich ist Jesus noch zu keinem Kranken extra hingegangen; nur wenn Er am Wege Leidende traf, so hatte Er wunderbaren Trost für sie und Liebesworte.“
Die Nachbarin nimmt nun ihre Kinder und will sich verabschieden, da spricht Maria: «Ada, vergiss die Worte unseres Jesus nicht und komme wieder!“
„Nie werde ich den Liebesdienst vergessen, den du mir heute erwiesen“, spricht sie zu Jesus; „und an deine Hände werde ich wohl Zeit meines Lebens denken; denn aus ihnen strömte Kraft und Balsam!“
„Gehe mit Gott! — Beginne alles nur in Seinem heiligen Namen, und sei gesegnet jetzt und fürder!“ antwortet Jesus.
Das kleine Mädchen aber drängt sich an Jesus hin und spricht: „Du, lieber, guter Jesus, hast meine Mutter gesund gemacht! Dafür will ich dich immer recht liebhaben! Und wenn ich zu Gott bete, werde ich Ihn bitten, dass du auch noch andere gesund machen kannst!“
„Tue das, Meine kleine Lea, und behalte Mich recht lieb, denn Ich habe dich auch lieb; und so kannst du Mich auch öfter besuchen, doch zuvor musst du immer deine Mutter fragen.“
Die kleine Lea schmiegt sich an Jesus, während der Junge beiseite stand und nicht den Mut dazu hatte. Nun geht die Witwe dankbaren Herzens mit ihren Kindern in ihr Heim zurück; doch in ihrem Herzen steht die grosse Ahnung: Jesus ist mehr als ein gewöhnlicher Mensch!

05. Gabriels Botschaft

Im Hause Josephs beredeten die Brüder noch lebhaft den Fall. Jesus aber ging still hinaus, lenkte Seine Schritte nach einem Hügel und hielt dort, wie immer, Seine Andacht. Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit — und nach einer Weile — in die Zukunft.
„O Vater, Du Liebe der Liebe! Du Sein, aus dem alle Glückseligkeiten stammen! — Wieder bin Ich verbunden mit Dir in Mir! O du Liebe! Du heiliges Leben! — Wann rufest Du zur Tat? Heisses inneres Verlangen beschäftigt Mein Sein — und Ich möchte ganz Dir dienen, nur dienen, dienen!“
Jesus ist allein. — Um Ihn wird es still und heilige Ruhe ist auch in Ihm. Von ferne klingt noch der Ruf eines Käuzchens und schnell bricht die Nacht herein. Eine klare Nacht, und der Sternenhimmel steht im schönsten Strahlenglanze. — Eine Sternschnuppe löst sich und durchkreist ein Stück des Weltenraumes. Jesus aber wendet kaum den Blick dahin, denn Er beschaut die Gegend und den Sternenhimmel von innen.
Da steht eine leuchtende Gestalt vor Ihm, verneigt sich tief und spricht: „Herr! Herr! Im grossen Weltenraume ist ein neuer Zug, ein heilig Wehen zu verspüren, und alle Wesen werden erfüllt von dem Verlangen, in Wahrheit zu erfahren von wannen dieser Zug wohl kommt! Wir wissen, Du bist auf der Erde! Wir wissen, dass es Dein heiliger Wille ist, darüber zu schweigen! Aber Herr! Herr! — Nun können wir nicht mehr schweigen, denn Dein Inneres leuchtet auf dieser Erde gleich einer Sonne! O Herr! Warum noch länger schweigen? — Warum dürfen wir nicht — gleich Dir — wirken und mithelfen?“
«Mein Bruder, du Mein Herold! Du warst der Erste, der Meine An und Niederkunft einst verkündete, und vor Freude strahlte dein Herz gleich einer Mittagssonne! Alle Seligen und alle, die auf dem besten Wege waren es zu werden, jubelten, frohlockten und glaubten, dieses sei die grösste Herrlichkeit. Aber Der, dem aller Jubel und alle Freude galt, verhüllte sich ganz ins Menschliche und die Freude kühlte sich ab! Doch nun lebten sie der Hoffnung, dass sich doch alle Herrlichkeiten einst offenbaren müssten. — Getreu verrichtet ihr alle euren Dienst und auch nicht einer hätte einen Tadel verdient — Aber, Mein lieber Gabriel, noch ist die Zeit nicht da! Wie ihr alle auf den euch wohlbekannten Gottesruf wartet, so warte auch Ich! —
Und immer wieder ist zu prüfen, ob auch alles, auch das Allergeringste in Mir, wahrhaft neu durchgeistigt ist!“
„Herr! Herr!“ spricht Gabriel, „wir als Deine treuesten Diener standen manchmal in Deiner Nähe, wo Du alle Kräfte in Deinem Innern dem Niederen entgegenstelltest. Wir durften nur zusehen, durften nur in unserem Innern flehen: O Herr, lass uns Dir helfen! Aber Dein Wille gab uns nicht die Zustimmung! — Der Feind alles Lebens hat dadurch auch uns zu schaffen gemacht; aber in keinem einzigen Falle konnte er uns wankend machen. Nun ist ein anderer Zustand eingetreten, denn alles Menschliche gehorcht Deinem Willen! Und in allen himmlischen Sphären fühlt jeder Bewohner: O Erde, jetzt ist die Zeit erfüllt, wo du als kleinste Schöpfung die grösste Aufmerksamkeit verdienst. Denn alles ist der Hoffnung: Der Herr lost jetzt den Fluch, der auf aller Schöpfung haftet; und Du, als Jesus, bist in den Mittelpunkt gerückt!“
„Gewiss, Mein Bruder“, antwortet Jesus ernst, „dies ist alles richtig und wahr. Aber bedenke, nur die Früchte halten sich, die wahrhaft ausgereift sind! Oh, noch lange nicht ist es so weit. Es erfordert noch viel Kampf, viel Treue und demütige Hingabe! Aber eines sage Ich dir heute: Verkünde in allen Welten „Das Werk der Erlösung ist in das letzte Stadium getreten! Nicht mehr geheimnisvoll wird der Menschensohn alles verbergen, sondern offenbar soll es werden: Gott ist Mensch geworden! Und alles Menschliche wird dadurch befähigt, alles in sich zu vergöttlichen!“ Nun gilt es noch zu vollenden, was bisher dem Feind alles Lebens siegreich abgerungen wurde. So tuet nun weiter euren Dienst in der alten Opferwilligkeit!“
Tief verneigt sich der Engel — und Jesus ist wiederum allein.

06. Der innere Ruf

Dann geht Jesus nach Hause, wo Maria noch tätig ist. Als Er eintritt, schaut sie auf; Jesus aber geht hin und spricht:
„Mutter! — Nun bin Ich am Ziel! Und nicht mehr lange bleibe Ich im Hause bei Dir und den Brüdern. Du weisst um was es geht. Ich darf, den Ruf nicht unerhört lassen, denn mit einem Male ist Mir alles klar! Was heute am Tage noch dunkel war, ist jetzt voll Licht in Mir geworden! Nun bin Ich mit euch verbunden und kann Mich nicht mehr trennen von euch, obwohl Ich körperlich Meilen weit entfernt sein könnte. O Maria, könntest du die Freude in Mir fühlen, du würdest sagen: Jesus, warum bleibst Du noch in Nazareth? — Und Ich müsste dir antworten: Nur noch kurze Zeit, — da Ich keinen Schritt ohne den tief erkannten heiligen Willen Gottes tue! Was Ich bis heute getan und gewirkt habe, tat Ich eigentlich aus Mir, da Ich Gottes Ziele wohl leuchtend, aber wie ausser Mir, liegen sah. Mein ganzes Ringen und Kämpfen galt dem Niederen, dem Menschlichen, da es sich dem Göttlichen in Mir widersetzte. Der Schlusskampf war leicht und nicht mit dem Anfang zu vergleichen. Denn nun wirke nicht mehr Ich. sondern der Vater oder Gott wirkt nun in Mir! Dies ist Mir heute so klar zum Bewusstsein gekommen.“
„Jesus!“ — ruft Maria, „ist dieses heilige Wahrheit, oder könntest Du nicht irren?“
„Weib! Warum willst du Mir nicht glauben?“ entgegnet Jesus ihr. „Warum bist du die erste, die solchen Meinen Worten Zweifel entgegenstellt? Merke dir: Irren kann jeder Mensch, aber nicht Gott! — Und Gott wohnt jetzt in Mir! Und nun wollen wir zur Ruhe gehen.“
Aber Maria konnte keinen Schlaf finden, denn nun war das längst Geahnte Tatsache geworden: Jesus hört auf, ihr Sohn zu sein und steht nun so bedeutend über ihr! — Wo und wie wird Er Sein Werk beginnen? — Dann schläft sie doch ein — und rasch war die Nacht vergangen.

07. Jesus kündigt Seinen Abschied an

Zeitig sind alle aufgestanden, und Maria bereitet das Morgenmahl. Jakob geht zu ihr hin und sagt: Maria! Jesus hat heute wieder kein Lager aufgesucht; wo mag Er hingegangen sein?“ —
„Jakob, lass alles Sorgen um Jesus!“ antwortet Maria, „Er ist unser Heil, wie du ja längst weisst; und heute Nacht kündete Er mir: „Nun bin Ich am Ziel!“ — Ach, Jakob, wären wir auch so weit, dann hätte alle Sorge und alles Ringen in uns ein Ende.“
Jesus tritt ein. Freundlich grüsst Er Mutter und Brüder und sich an Maria wendend spricht Er: „Maria! Lass alle Sorgen schon jetzt weit hinter dir! Denn Gott kann sich nur da in Seiner Herrlichkeit offenbaren, wo Ihm wahrhaft kindliches Vertrauen entgegengebracht wird! Glaube Mir, und alle Himmel sind bereit, dir zu dienen.“
„Jesus, nimm mir die Last von meinem Herzen, denn noch bin ich Deine Mutter.“ —
„Die du auch bleiben wirst!“ — antwortet Jesus voll Liebe. „Stosse dich an nichts, denn Ich bin Mensch und dein Sohn! Mein innerer Geist aber ist Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Darum bleibe in der reinen Liebe und wir sind eins!“
Nun setzen sich alle zum Morgenmahl; Joel stimmt den Lobgesang an und alle singen mit, nur Jesus schweigt. — Nach beendetem Gesang wird schweigend gegessen; dann steht Joel auf und fragt: „Jesus, kommst Du heute mit? — Es ist viel zu arbeiten, und ich will fertig sein beim Sonnenuntergang!“
„Joel, Mein Bruder! Lass uns heute und morgen feiern! Deine Arbeit ist fertig, denn Ich wollte es so! Wer weiss, wann wir nochmals so geeint zusammen sind? — Nathan hat keine Ruhe und bald ist er hier. Da sollt auch ihr alle Gottes grosse Güte und Herrlichkeit miterleben.“
„Jesus, Du teurer Bruder“, spricht Joel bewegt, „haben wir nicht genug Herrlichkeit erfahren? Ja, geahnt haben wir längst Deinen Abschied, da Du jetzt so viel froher und freier bist. Doch da wir alle noch am Tische sitzen, so bitte ich Dich im Namen aller Brüder: Jesus! — so wir Dir in Deinem Kampfe nicht beigestanden und Dich so oft nicht verstanden haben und Dir wehegetan, so vergib Du uns unsere Schwäche und behalte uns lieb als Deine Brüder!“
„Mein Joel und ihr Brüder! Dieser Bitte bedarf es nicht. Bleibet treu und wahr in aller Demut; und lasst über all eurem Tun den Geist der Liebe walten! Dann sind wir eins und in und durch des Vaters Liebe treu verbunden, und ihr seid und bleibt Meine Brüder hier wie auch in Ewigkeit!“

08. Nathan schaut In seine Innenwelt

Wie Jesus gesagt, kam Nathan und bat um Nachsicht, da er zu so früher Stunde gekommen sei, denn: „Jesus und ihr, hört, ich habe keine Ruhe und weiss nicht wo aus noch ein! Es ist ein elender Zustand seit gestern in mir, und ich mag denken wie ich will, ich komme zu keiner Klarheit. Bittend habe ich mich an Jehova gewendet; aber statt ruhiger wurde ich zur Unruhe selbst. Müde wälzte ich mich auf meinem Lager. Und als ich endlich einschlief, hatte ich einen merkwürdigen Traum, der mich nach dem Erwachen noch unruhiger machte.“
Jesus spricht: „Aber Nathan! Du als Priester solltest doch mit dir selbst fertig werden können und uns ein besseres Bild von dir zeigen! Denn du weisst, dass Menschenrat selten etwas nütze ist.“
„Ja, Jesus! Du magst recht haben; aber Du bist ja die Ursache meiner Unruhe! — Soll ich euch den Traum erzählen?“
„Du kannst ihn ruhig erzählen, um der Brüder willen; denn Ich weiss deinen Traum“, antwortet Jesus.
„Was? — Du weisst ihn? — Wie kannst Du ihn wissen?“
„Nathan, so Ich will — ist Mir nichts verborgen!“
Nathan staunt und erzählt dann: „Mühsam suchte ich Schlaf und Vergessen, denn, dass meine Schmach und Schande offenbar ward, ging mir nicht aus dem Sinn. Grossherzig reichtet ihr, und vor allem Du, Jesus, mir die Hand und erneuertet den alten, doch so lange bestandenen Freundschaftsbund. Gemein und niedrig habe ich gedacht und gehandelt und habe Liebe mit Neid und Hass vergolten! Es wollte mir nicht in den Sinn, dass Du, Jesus, mich durchschaut hast — und dies durch Tatsachen beweisen konntest! — Endlich schlief ich ein und mir träumte sehr lebhaft: Ich bin der Besitzer eines grossen Grundes, habe viele Leute, viel Vieh und grosse Felder. Ich gehe hinaus und besichtige die Ställe. Das Vieh brüllt, es hat kein Futter! Ich suche die Leute, um sie zum Füttern zu schicken; da lehnen sie träge und sagen: Nathan, wir haben kein Futter mehr! — Auf dem Felde ist alles bereits abgeerntet. Auch wir haben kein Brot; und das Korn ist alle; schaffe anderes! — Was? rufe ich entsetzt — kein Futter fürs Vieh und kein Brot für uns? — Das gibt es doch nicht! — überzeuge dich selbst!, wird mir zur Antwort. Ich eile hinaus nach dem Felde. Kein Gras, kein Grünfutter alles abgeerntet und nachgewachsen war nichts, da es seit Wochen nicht geregnet hatte. Ich gehe nach den Getreidefeldern. Mannshoch steht die Ernte, aber als ich näher komme, sind an den Halmen keine Ähren. Ich eile zu den anderen Feldern — auch hier keine Ähren! Da sinke ich zusammenbrechend nieder und weine bitterlich. — Nun kommst Du, Jesus, und fragst: Nathan, was hast du verloren, da du so bitterlich weinst? Und ich sage: Siehe hin — dort stehen die Felder in herrlicher Pracht, aber ohne Ähren. Was soll werden? — Denn nun fehlt nicht nur das Brot, sondern auch die Aussaat. — Da sprichst Du: Hier kann dir auch Gott nicht helfen, da du hier nur die Frucht deiner Aussaat siehst. — Ich erwache und, o Schreck, Deine Worte klingen nach: Was du siehst, ist die Frucht deiner Aussaat! O Jesus! Was bedeutet dies alles? Gib mir meine Ruhe wieder!“
„Nathan, deine Ruhe kann Ich dir nicht wiedergeben, da Ich sie dir nicht nahm. Niemand kann dir etwas zurückgeben, was er zuvor nicht von dir erhalten oder genommen hat. Aber ein besonderer Umstand ist es, der dich in diesen Kampf führte und dieser ist: Gott, der Ewige, ist dir gnädig gesinnt; Er hat deinen Willen durchkreuzt! Durch diesen Traum zeigte Er dir deine Innere Welt. Würdest du jetzt sterben, so würdest du in deiner Welt dasselbe erleben — nur mit dem Unterschied: Aus diesem Traum gab es noch ein Erwachen für dich. Aber dort, im Jenseits, würde dein Zustand Ewigkeiten währen können. Denn: wie die Aussaat — so die Ernte!“
„Aber Jesus!“, fragt Nathan entsetzt, „habe ich nicht mein ganzes Leben Jehova geweiht? Habe ich Ihm nicht gedient von Kindesbeinen an und habe das Gesetz und, die Propheten gehalten, so gut ich nur konnte? Und nun soll dieses alles nichts sein? O Jesus, dann wäre es besser, ich wäre ein Heide und Baaldiener geworden.“
„Und wärst in deinem Elend noch tiefer gefallen!“ antwortet Jesus. „Denn dir trug dein Boden immer noch Halme, wenn auch ohne Frucht! Wie würde dir aber zumute sein, so du in Nacht und Finsternis nicht wüsstest wo aus, wo ein und um dich wären nur Felsen und hartes Gestein? Noch ist es nicht zu spät. Noch kannst du in Hoffnung und Glauben deinen Boden’ neu bestellen, und wir alle wollen dir dabei behilflich sein. Nathan! Warum willst du Mich nicht verstehen? Lass in erster Linie alle Furcht und Angst vor uns fallen und denke: Wir sind deine Freunde!“
„Jesus! Jesus! Ich verstehe Dich nicht, fühle wohl eure Liebe, aber was soll ich tun? — Was ist nötig, um wieder Ruhe und Frieden in mir zu schaffen?“
„Lieber Nathan, ein Gleichnis soll dir Antwort geben. Denn diese Sache ist zu ernst und ist allein von deinem starken Willen abhängig! Siehe, ein Vater hatte 3 Söhne. Der Älteste, begabt mit grossen Geistesgaben, entzückte die Welt mit seinen Schöpfungen in Kunst und Wissenschaft, und sein Ruhm reichte fast bis an den Himmel. Und wie sein Ruhm wuchs, so wuchs auch sein Reichtum. Aber innerlich war er arm, denn er besass keinen wahren Freund, und in Stunden stiller Einsamkeit fror er entsetzlich, denn sein Herz sehnte sich nach etwas anderem, und das wurde ihm nicht zuteil. Der zweite Sohn war ein Leichtfuss; wie gewonnen, so zerronnen! Alles, was er anpackte, glückte; aber sein Leichtsinn machte alles wieder schwinden. Er wurde geliebt, solange er Mittel hatte; doch als er nichts mehr besass, war er einsam und die Reue zerfrass sein Herz. Der Jüngste, ein stiller, kränklicher Mensch, liebte die Einsamkeit. Die Tiere im Walde waren seine Freunde, die Vögel waren seine Begleiter; und er litt lieber selbst Hunger, als dass im Winter seine Lieblinge hungerten. Einmal kamen Kinder der Nachbarn zu ihm, und er lehrte sie wundersame Dinge. Sie lernten von ihm nicht nur die Natur und ihre Geschöpfe kennen, sondern auch lieben! Im Winter aber, da sie sich nicht treffen konnten, fehlte den Kindern ihr Lehrer, ihr Freund und Wohltäter sehr. Dieser jüngste Sohn wurde immer glücklicher, trotz Leiden und Beschwerden, denn er besass die Liebe seiner Mitmenschen; und diese Liebe ward die Kraft und der grosse Reichtum seines Herzens! So, lieber Nathan, hier hast du die Geschichte der drei Söhne. Lebe dich hinein und erfahre, welchem du gleichst!“
Aufmerksam hörten nicht nur Nathan, sondern auch die Mutter und die Brüder zu; und so sagte Maria: „Aber Jesus, ist denn die Geschichte schon aus? — da fehlt doch noch der Schluss!“ —
„Gewiss, da hast du recht! Aber den Schluss sollet ihr selbst finden, da es nur ein Gleichnis ist.“

09. Aus Jesu Innerer Welt

In diesem Augenblick tritt die kleine Lea in die Stube und spricht: „Mutter Maria, meine Mutter lässt fragen, ob sie zu dir kommen kann, da sie viel von dir wissen möchte — und darf ich auch mitkommen?“
Maria antwortete: „Sage deiner Mutter, so es ihre Pflicht erlaubt, ist sie herzlich willkommen; und du, kleine Lea, darfst immer zu uns kommen, denn ich habe artige Kinder lieb.“
„Hat Jesus auch die Kinder lieb?“ —
„Frage ihn doch selbst; dort sitzt Er ja mit am Tische.“
„Jesus, bist Du böse, wenn ich Dich um etwas frage?“
„O nein, mein Kind! Ich kann gar nicht böse sein, weil Ich alle Menschen liebe, also auch Kinder!“
„Auch die bösen?“ —
„Ja, kleine Lea, auch die Bösen liebe Ich; da sie ja meistens nicht wissen, dass sie böse sind.“ —
„Oh, dann bist Du ein merkwürdiger Mann! Mutter sagt immer: „Böse Menschen meidet man.“ —
„Ja, gewiss, deine Mutter hat auch recht! Aber die man meidet, kann man trotzdem lieben! Jetzt verstehst du dies noch nicht, aber wenn du älter bist, wirst du Mich verstehen lernen. Doch nun gehe, deine Mutter wartet auf dich.“ —
Bald darauf kam Ada mit Lea, und Tränen der Dankbarkeit flössen, als sie Jesus begrüsst: „O Du guter Mensch! Wie haben wir Dich verkannt, und nun hast Du uns zum Schuldner gemacht!“
„Mitnichten, liebe Ada. Doch da du nun einmal hier bist, so hätten auch wir an dich eine Bitte. Siehe, es können Umstände eintreten, dass Mutter und Ich nicht zu Hause und wochen oder monatelang fern weilen; aber keine ordnende Hand, keine Hausfrau ist im Hause. Da brauchen nun manchmal Meine Brüder, so auch sie fern vom Hause schaffen, doch dann und wann weibliche Hilfe. — Würdest du bereit sein, dem Hause Joseph diesen Dienst zu erweisen?“
„Aber Jesus, wie kannst Du nur fragen, da nur Liebe um Liebe, nur Wohltat und Güte vom Vater Joseph kamen! Und heute sollte ich vergessen? — O nein! Eure Liebe ist wie eine Sonne, und nach dieser Liebe habe ich gehungert und mich fast zersehnt. Wie war es schön, wenn der Vater Joseph von dem gewaltigen Segen Jehovas und den Führungen der grossen Propheten sprach. Du aber, Jesus, warst ja meistens nicht daheim und hast da viel versäumt; ich möchte wohl wissen, wo Du warst und weshalb Du nicht zu Hause geblieben bist?“ —
„Liebe Nachbarin Ada“, antwortet Jesus, „alles wissen wollen — ist nicht gut! Aber da auch Nathan ein Recht hat, manches von Mir noch zu erfahren, was ihn oftmals beirrte, so will Ich euch allen ein Stück Meines inneren Ringens und Kämpfens zeigen. Sehet! — Die Meisten kennen Midi nur als den sehr stillen, einfachen ZimmermannsSohn! Doch von Kindheit an lebte in Mir der Drang für Göttliches, für das, was Meiner Seele den wahren, rechten Schwung gibt — um da zu weilen wo ,das Allerheiligste’ sich aufhält! Mit innerer, heiliger Freude erlebte Ich dabei, wie sich immer mehr Ablagerungen von Niederem an Mir und in Mir bemerkbar machten! Und dieses erkennend, befreite Ich Mich davon, oft erst durch grösste Anstrengungen. Ja, Ich erkannte einen gewaltigen ‚Gegensatz’ *) so müssen auch wir diesen Gegensatz in uns selber suchen, um ihn erkennen zu lernen! in Mir, der sich trennend zwischen Mich und das ‚HeiligErsehnte’ stellen wollte. Eine grosse, schwere Frage lebte in Mir auf: Wieweit bin Ich eigentlich diesem Niederen, Falschen und Verkehrten verpflichtet? Doch Worte oder Gedanken konnten diese Frage nicht lösen. Um Mich zu befreien von dieser Geissel, von diesem Trieb ins Niedere, der alles Höhere zu überwuchern drohte, griff auch Ich zu Gewaltmitteln! So suchte Ich oft einsame Gegenden auf und analysierte Mein Wesen bis ins Kleinste. Hier erlebte Ich Wunder der Wunder und entrückte in Herrlichkeiten, die Mir so traut und so bekannt waren, als wenn Ich nie davon getrennt gewesen wäre.
Ein anderes Mal wieder erlebte Ich „Abschaum und Hölle“, blieb aber doch gefeit dagegen infolge der vorangegangenen ernsten Kämpfe in Mir. Wieder ein andermal ging Ich auf Märkte und Tanzplätze, liess alles, was, Welt’ und ihr Anhang war, auf Mich einwirken; aber wie ein Abgeklärter, wie ein über alles dieses Erhabener konnte Ich auch hier unberührt bleiben. Mitten in Sünde und Laster fühlte Ich Mich beschützt wie von einem Panzer, der nichts hindurch liess! Ja, bewusst stieg Ich in, die Seelen’ der Verirrten und Verdorbenen, die sich Mir wie eine grosse, grosse ,Welt’ offenbarten — und habe manche dunklen Schluchten und manche Wüste durchwandert. Dabei aber lernte Ich erst die Sehnsucht kennen, die helfen will und noch nicht kann! Immer grösser wurde diese Sehnsucht in Mir. Immer mehr entfloh Ich Meinem NatürlichMenschlichen und suchte nun in Meinem Innersten danach, inwieweit auch dieses verpflichtet ist, hier helfend und erlösend zu wirken? — Da schaute Ich „Mein eigen Ich!’ — und selige Freude durchzog Mein ganzes Wesen. „Wer bist Du?“, rufe Ich ihm zu, ‚der Du Mich so selig machst?’ — "Ich bin Du! Und Du bist Ich!“ klingt es Mir entgegen, und jedes Wort ist wie heilige Musik, ist heiliges Leben und neue, ungeahnte Freude ist in Mir. Doch wiederum musste Ich auch Meine irdischen Pflichten erfüllen als Mensch, als Bruder und als Sohn. Und sehet, liebe Brüder, für manches von euch unverstandene Wort hätte Ich euch lieber Freundlichkeiten gesagt, aber es konnte nicht sein. Denn mit glühenden Buchstaben war, das Gesetz in Mir eingebrannt *) Jeremia 31, V. 31—33. , und somit galt Mein Streben und Bestreben nur der Erfüllung dieses Gesetzes in Mir! Und nun endlich ist das Grosse, längst Ersehnte erreicht: Ich und Gott sind Eins!“
Maria fragt besorgt: „Jesus, gibt es für Dich kein Irren? — Wenn es nur Wahn wäre, Dein Verbundensein mit Gott? Mancher schon glaubte am Ziele zu sein, aber noch nicht einmal der rechte Anfang war gemacht! Denn im Leben gibt es viel Irren und zu viel Wirren.“
„Maria! Wann wirst du wohl glauben können, dass es so ist? — Sollen denn immer erst Tatsachen sprechen und dich überzeugen? Nur freier, reiner Glaube trägt Kraft. Alles andere ist wenig wert!“
„Mein Jesus, ich wollte Dich nicht anzweifeln! Du gehst ja Deinen Weg, ob wir an Dich glauben oder nicht. Es wird wohl noch vielen Nazarenern so gehen, sie werden hören, sehen und doch nicht glauben können.“
„Sorge dich nicht, dafür werden andere glauben und werden gleich wie Ich, die Herrlichkeit Gottes’ schauen!“
Auch die kleine Lea achtete auf jedes Wort, das Jesus sprach, und es schien, als wenn sie es auch verstanden hätte. Da geht sie zu Jesus und fragt: „Du, Jesus, es geht mir noch im Kopf herum: wie kannst Du denn die Bösen lieben? — wenn Du das Böse als bös erkannt hast! — Mutter hat immer Angst, dass wir böse werden könnten!“
„Lea! — passe einmal auf: Ich habe dich recht lieb, und du Mich auch — nicht wahr? Das glaubst du?“ —
„Ja, das glaube ich Dir.“
„Wenn du aber einmal ungehorsam bist, glaubst du, dass Ich dich dann nicht mehr lieb hätte?“
„Nun, Du könntest mir nicht mehr so gut sein, da ich nicht mehr die Lea bin, die Du liebst!“ —
„Doch, Mein Kind! Merke dir für alle Zeiten: Liebe alle Menschen — doch nicht das Menschliche an ihnen! Liebe, soviel du lieben kannst und magst — doch nie das Böse und Garstige! Denke immer: Gott hat dich erschaffen, aber auch alle anderen! Gott ist das Gute; und nur Gutes erhielt der Mensch als Geschenk von Gott. Das Böse aber ist stets ein Anteil vom Bösen, darf aber nicht getan — sondern muss überwunden werden! Und nur wer es überwindet, ist ein Sieger über das Böse! Hast du das verstanden?“
„Ja, mein Jesus, ich habe gehört und verstanden! Aber ich will doch böse Menschen meiden, denn sie könnten mir meine Liebe zu Dir rauben!“ —
„O Mein Kind! Komme an Meine Brust und denke, Ich wäre dein im Himmel lebender Vater! — Doch schweige, wenn wir Grossen reden, denn du bist noch klein!“ Nun schmiegt sich die kleine Lea dicht an Jesus. Er aber spricht weiter: „Dieses Kind hat einen besonders scharfen Geist und gewahrt Dinge, die manchem Erwachsenen noch ferne liegen, und für solche Kinder tut doppelt Vorsicht not.“ —
„Warum dies?“ — fragt Leas Mutter.
„Weil alle die, die einen grossen, gewaltigen Geist von Oben haben, nicht so tief in das Animale und Materielle verpflanzt werden dürfen, sondern in das geistige Sein. Wie ein Baum, so er grösser und älter wird, immer bemüht ist, seine Wurzeln tiefer und breiter ins Erdreich zu bohren und immer widerstandsfähiger zu werden, um allen Stürmen und Gefahren trotzen zu können — so auch wir Menschen. Darum tief wurzeln im geistigen Erdreich wollen wir bestehen! Je tiefer wir uns versenken in das reine, wahre Gottesleben, desto mehr eignen wir uns davon an. Nur Träge oder Hochmütige liegen bald entwurzelt am Boden
und jammern, Gott solle ihnen helfen. Gott aber hat alles so weise eingerichtet, dass ein jeder seines eigenen Glückes Schmied werden muss!“
Jesus sieht nachdenklich auf Nathan — dann spricht Er weiter: „Nathan, schaue Mich nicht so ungläubig an, denn dein Inneres ist wie ein Spiegel, und deine Gedanken liegen vor Mir wie ein offenes Buch. Würdest du dich nicht als der Geschlagene fühlen, du würdest jetzt mit Mir rechten wollen!
Aber Ich sage dir, zum Richten und Rechten sind wir nicht zusammengekommen, sondern um uns zu einen! Werde demütig und klein und lerne von Mir, dann bist du auf dem rechten Wege in dein Inneres! Nur „Gott dienen“ — sei auch deine heilige Aufgabe!“
„Jesus, wo hast Du Deine Weisheit und Kraft her?“ fragt Nathan fast entsetzt. „Es kann doch nicht sein, dass Weisheit, Kraft und Vernunft in Deinem Herzen aufgespeichert sind, wie man Korn oder Wein aufspeichert! Warum steht nichts im Moses oder den anderen Schriften darin, wie man sich dieses erringt?“
„Nathan! Weil ihr die grösste Zeit eures Lebens geistig schlaft, wie jetzt Lea hier schläft und träumt. Weiter will Ich dir nichts sagen, da du selbst die Wahrheit finden sollst.“ —
Ada nimmt die kleine Lea vom Schösse Jesu weg, legt sie auf eine Ruhebank und entschuldigt sich wegen ihres Kindes.
Jesus aber spricht: „Ada, Kinder habe Ich immer lieb, und die kleine Lea liebt Mich ganz besonders, darum sorge dich nicht um sie. — Aber mit Maria könntest du dich um ein Mittagsbrot bemühen. — Wir aber, liebe Brüder, und du Nathan, wollen auf die Anhöhe gehen; in zwei Stunden sind wir wieder zurück!“
Joel spricht: „Bruder, was werden die Leute von uns reden, dass wir heute kein Tagewerk verrichten!“
„Sei gut, Joel! — Dass von uns nicht viel Gutes gesprochen wird, ist bekannt; doch dafür werden wir sie nicht bestrafen. Und dann ist ja Nathan in unserer Mitte. — Also nicht sorgen! Schaue nicht auf das Reden und Tun der Menschen, sondern zeige du den Menschen ‚deinen erwachten inneren Geist’ — und sie werden verstummen!“

10. Die Weihe auf der Anhöhe

Nun gingen sie nach der Anhöhe und machten es sich dort bequem. Jesus bemerkte: „Nathan, du bist wohl recht müde geworden von dem Wege? — So ruhe nun; denn um grosse, gewaltige Gedanken aufzunehmen, muss man ausgeruht sein. Ich aber werde nicht müde, wenn Ich es nicht will, und habe doch gestern und auch heute nicht geschlafen, sondern gewacht. — Der Geist in Mir ist es, der Mich wach hält.
Liebe Brüder! Nun höret, was Ich euch hier zu sagen habe: Nun verlasse Ich euch und gehe ‚Meinen Weg’! Ihr wisset, seit Noah wird der Erlöser ersehnt; seit Abraham — direkt erwartet! Wohl schuf Gott der Herr Möglichkeiten, dass der Geist aus Gott in eines jeden Menschen Innern das Alles  Beherrschende und auch das Ausführende sein sollte. Aber dieses ist noch keinem gelungen. Wohl wurde von einzelnen Grosses erreicht, und Segnungen über Segnungen erfuhren dadurch die Menschen; aber von bleibendem Wert ist es nicht geworden. Nun ist es Mir gelungen in all den Jahren, die ihr Mich kennt: alles FleischlichSeelische dem Geiste untertänig zu machen! — Ich schaffe nun im reinen Geiste Gottes ein Werk von ewigbleibendem Wert, und allen Menschen und allen Wesen wird dies zugute kommen!
Du, Bruder Joel, bist der Erbe vom Vater Joseph; alle Menschen aber, auch du mit, sind dann Meine Erben! Was Ich den Menschen hinterlasse, wird kaum erkannt werden, ausser es kommt die Not, die grosse, gewaltige, die alle Menschen erfasst, und bringt sie nach langen, mühseligen Verirrungen endlich so weit, umzukehren von ihrem weltlichen Denken und Tun und das Geistige — das Ich ihnen zeigen und geben will — zu glauben und Mir dann nachzufolgen!“
„Lieber Jesus“, spricht Nathan nachdenkend, „Du warst in Nazareth mein Sorgenkind. Alle beugten sich dem Gesetz und den Gottesworten, nur Du gingst eigene Wege. Jetzt aber muss ich Dir glauben, denn Du zwingst mich dazu, da ich Dir nichts widerlegen kann! Aber ich, als Priester, frage nun Dich, Jesus, als Mensch — den Menschen: „Irrst Du auch nicht?“ Bist Du so überzeugt von Deinen Ideen, dass Du Dein Leben in die Waagschale werfen könntest? Siehe, manchmal überkommt einen solche innerliche Kraft und Lebensfülle, dass man glaubt, ein Riese zu sein; doch am nächsten Tage — o wie ist man wieder klein und mutlos!“
„Lieber Nathan! Deine Rede ist wohl gut und wahr für manche, aber auf Mich ist sie nicht anzuwenden. Denn durch und durch habe Ich Mich selbst geprüft und in den nächsten Wochen übernehme Ich Meine letzten Prüfungen. Denn bezwungen — ist Mein Fleisch, und in Meiner Seele — ist alles durchgeistigt! Aber Beweise sind noch zu erbringen den grossen, mächtigen Finsterlingen im Jenseits! Denn auch dorthin werfe Ich Meine Lebensstrahlen. Auch den Bewohnern im grossen Geisterreich soll Gelegenheit gegeben werden zu sehen — was ihr sehet. Alle Himmel sind offen! Durch die Räume der Unendlichkeit klingt ein Singen und ein Jubel! Denn auf dieser Erde offenbart sich jetzt Gott — als, die heilige Liebe!’ und will, dass allen, allen geholfen werde.“ Schweigen ist um Jesus. Niemand wagt ein Wort; auch Nathan ist überwunden. Und in dieser Stille vollzieht sich eine innere Weihe. —
Danach spricht Jesus: „Brüder! Im Geiste der ewigen göttlichen Liebe danke Ich euch, denn ihr habt Mir geholfen bis hierher, indem ihr Mich gewähren liesset. Doch in dieser Stunde lege Ich euch eine Bitte, eine grosse dringende, an euer Herz und die ist: „Werdet nicht stolz und hochmütig, so ihr von eurem Bruder Jesus Wunder und Taten hört! Denn es werden gewaltige Dinge geschehen! — Und der Tempel wird auch nicht ruhig zusehen, so Ich vielleicht die Besten zu Meiner Lebenslehre überzeuge. Bleibet demütig, bleibet klein und still, doch verbindet euch immer noch inniger mit dem Geiste in Mir. Denn dieser Geist ist Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! — Dann seid ihr gesegnet nicht nur für jetzt, sondern für Ewigkeiten! Nicht seid ihr gesegnet, weil Ich euer Bruder bin und war — o nein, sondern weil der Segen nur von Gott ausgeht, der nun auch in euch wohnen will und wohnen soll! Von nun an sind alle Menschen Meine Brüder, so sie ringen und kämpfen um den Geist, der in Mir lebt. Und dieser heisst: Liebe — Liebe — Liebe! Von nun an gibt es keinen örtlichen Himmel mehr. Denn alles wird zum Himmel, wo dieser Geist der göttlichen Liebe die Lebensgrundlage ist!!
Von nun an gibt es keine Verfluchten und Verdammten mehr; denn göttliche Liebe ist Erbarmung und nur Erbarmung! Von nun an ist von jedem Menschenherzen aus ein Weg gebahnt zum Herzen Gottes und soll allen, allen zum Segen gereichen. Doch so einer diesen Herzensweg nicht geht, nicht gehen will, hat er sich selber zuzuschreiben, wenn er keinen Himmel in sich finden kann. Denn, Brüder, höret: Im Anfang war das ewige Wort, das alles durch sein „Es werde“ ins Dasein rief! Dieses Wort war Gott selbst! Und dieses Wort ist nun lebendig geworden in Mir. So lebendig, dass Ich aufhörte, Meinem eigenen Ich etwas zu sein! Und was Ich nun geworden bin, bin Ich durch dieses lebendige Gotteswort geworden!“ —
„Bruder Jesus“, spricht Joel, „Du machst uns stumm durch Deine Reden! Du sagst uns, dass wir gefasst sein sollen, so Du von uns gehst. Warum sagst Du nicht: „Kommt, gehet mit; denn ihr habt das meiste Anrecht, Mir zu folgen!’ Wie viele Herrlichkeiten haben wir schon erlebt durch Dich, und dass wir Dich lieben, dieses weisst Du besser, als wir es sagen wollen.“
„Lieber Joel, hast du vergessen, dass wir uns nie und nimmer trennen können? Was nützte wohl euer Mitgehen, so es nur äusserlich bliebe? Freilich, zurückweisen würde Ich keinen; doch Mein Rat ist: ‚Bleibet in Nazareth, und werdet eine Leuchte in diesen finsteren Mauern! Und gebet allen Menschen Liebe und ein rechtes Licht!’ — Dies sei Mein Wunsch für euch in dieser Stunde. Doch nun lasset uns heimgehen — denn Mutter hält das Mahl bereit; und du, Nathan, bist unser Gast!“ —

Nach Betrachtung

Bevor der lange ersehnte GottesRuf an Jesus ergehen konnte, um Sein heiliges Werk der Erlösung anzutreten, musste Er durch grosse Prüfungen hindurch gehen, um die göttliche ‚Erlöserkraft’ Seiner Liebe als unbesiegbar sich und anderen zu beweisen.
Jesus, als der berufene Erlöser von allen menschlichen Irrtümern musste den hässlichen Widerwärtigkeiten der Mitmenschen nicht nur voll Ruhe standhalten können, sondern Hass und Neid zu erlösen wissen vom Fluch ihrer finsteren Absichten.
Dieser heilige Gottesruf ward Ihm aber nicht durch einen Engel überbracht, sondern er ertönte in Seinem innersten Leben durch die Klarheit des erleuchteten Bewusstseins: Gott und Ich sind jetzt Eines!
Es stehen aber soviel heilige und gewaltige Offenbarungen aus unserm eigenen Innenleben noch zwischen den Zeilen, dass jedes Heft wohl siebenmal ruhig durchgelesen werden müsste — um selbständig diese Geheimnisse darin zu erkennen und sie in eigene Worte umzuformen, damit sie unser Eigentum werden!